Michael Brinkschröder, Sodom als Symptom. Gleichgeschlechtliche Sexuali-
tät im christlichen Imaginären - eine religionsgeschichtliche Anamnese (Re-
ligionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 55) Berlin-New York 2006;


Die Ausgangsthese dieses umfangreichen Buches mit rund 650 Seiten, das im Jahr 2003 an der Univer-
sität Würzburg als soziologische Dissertation angenommen wurde, ist pointiert: "Die Mehrzahl der christ-
lichen Kirchen," so der Autor im Vorwort, "droht an der Herausforderung, gleichgeschlechtlichen Perso-
nen, ihrer Sexualität und ihren Lebensformen Achtung entgegenzubringen, zu scheitern." "Warum", so
fragt er deshalb, "kann das Christentum nicht zu einem anständigen Umgang mit Schwulen und Lesben
finden, bei dem es ihre Würde und Gleichberechtigung respektiert? Warum sind viele christliche Kirchen
nicht in der Lage, die bedingungslose Liebe Gottes zu verkünden, wenn es um Schwule und Lesben geht?
Warum verdammt das Lehramt der katholischen Kirche gleichgeschlechtliche Sexualität sogar als böse?"
 (VII). Ausdruck verschaffe sich damit eine "tiefgreifende Pathologie des Christentums" (VII). Durch die
derzeitige "Provokation" der schwul-lesbischen Emanzipation sei eine der tiefsten und ältesten Wunden
des Christentums wieder aufgebrochen und offen sichtbar geworden. Dies biete aber auch die Chance ei-
ner Heilung, wenn die Ursachen für die Krankheit bewusst gemacht würden und sich die Kirchen mit ih-
nen auseinander setzten. Hierzu suche die vorliegende Studie einen Beitrag zu leisten, indem sie die "Wur-
zeln der christlichen Antihomosexualität" in einer religionsgeschichtlichen Anamnese freilege und sich da-
bei "im interdisziplinären Feld zwischen Soziologie und Theologie, zwischen Ethnologie und Psychoana-
lyse, zwischen Gender Studies und der Geschichte der Sexualität" bewege (VII).

Der erste Abschnitt >Antihomosexualität im Christentum< dient als Einleitung. Die zahlreichen Dar-
stellungen des Engelsturzes durch den Erzengel Michael aus gegenreformatorischer Zeit - oft sind sie zu
finden in den barocken Kirchen Bayerns und Österreichs - deutet der Autor als Symbol christlicher (An-
ti-)Homosexualität: "Michael attackiert... die sexuelle Begierde der männlichen Figuren, die sich auf-
grund der Berührungen mit den anderen als männlich erkennbaren Engeln näherhin als ein homosexuel-
les Begehren erweist" (5). Gezeigt werde also die homosexuelle Lust und deren Bekämpfung. Die andro-
gyne Michaelsgestalt spalte die eigene Homosexualität ab und bekämpfe sie in seinen Gegnern. - Gegen
einige Autoren - vor allem John Boswell -, die in jüngerer Zeit versucht hätten, "die Ansicht zurückzu-
weisen, dass religiöser Glaube - christlicher und anderer - die Ursache für Intoleranz gegenüber Schwu-
len gewesen" sei (7), ist es Brinkschröders Anliegen, dazulegen, dass "das Christentum gleichgeschlecht-
lich sexuelles Verhalten in all seinen Epochen und in allen Formen abgelehnt" hat (9). Je nach kulturel-
ler Umwelt und zivilisatorischem Niveau sei die entsprechende Abwehrstrategie eingesetzt worden: "Die-
se Abwehrmuster reichen von der archaischen Abscheu vor kultischer Unreinheit über die apokalyptisch
geprägten Zuschreibungsfiguren des Götzendienstes und des Verkehrs mit Dämonen bis hin zum Vorwurf
des Verstoßes gegen die Gesetze Gottes, der Natur oder der Vernunft. Die Flexibilität in der Wahl der Be-
gründungen verlieh der christlichen Antihomosexualität ihre Dauerhaftigkeit und Robustheit" (10). Die
über die gesamte Geschichte der Kirche durchgehaltene Ablehnung der Homosexualität interpretiert B.
nicht als "Zeichen der Wahrheit, sondern Symptom einer Krankheit des christlichen Glaubens" (30), die
"Verdammung gleichgeschlechtlicher Sexualität" sei "quasi eine nota ecclesiae" (30). Als Ziel seiner Stu-
die benennt B. "zu verstehen, welchen Sinn dieses Symptom hat und wo die Ängste vor der gleichgeschlecht-
lichen Sexualität ihren Ursprung haben" (30). Dazu bediene sich die Arbeit zweier methodischer Verfah-
ren aus der Psychoanalyse, der Symbolanalyse und der Anamnese.

Ein umfangreicher Teil A ist sodann einer "religionsgeschichtlich verfahrenden Symbolanalyse" gewid-
met, in der eine Deutung dafür erarbeitet werden soll, "wie die Symptomatik der christlichen Antihomose-
xualität entstanden ist" (31). Hierzu werden zunächst Grundlagen der Symboltheorie von Freud über Klein
bis hin zu Lorenzer und Turner dargestellt, bevor die Symbolisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität
selbst zur Sprache kommt. Dabei werden zunächst Paradigmen der jüngeren Homosexualitätsforschung
vorgestellt, aber auch verbreitete Formen der Abwehr homosexueller Phantasien (Verdrängung, Wendun-
gen, paranoider Mechanismus und Sublimierung) kommen zur Sprache. Darüberhinaus wird über die Be-
deutung und Funktion von religiösen Symbolsystemen im allgemeinen gehandelt und hierbei auch auf die
Bedeutung des (vor allem gesellschaftlich) Imaginären abgehoben. Resümierend ergibt sich, dass religiöse
Symbolsysteme mit ihren vielfältigen Bezugnahmen und Funktionen der "Herstellung von Sinn (dienen),
d.h. von Kohärenz und Orientierung" (159).

Teil B ist der Hauptteil des Buches und intendiert eine "Religionsgeschichtliche Anamnese", d.h. genau-
er eine "Anamnese des antihomosexuellen Symptoms des Christentums" (164). Dabei stehen biblische Tex-
te und ihre Deutung im Mittelpunkt; aber auch das kulturelle Umfeld, insbesondere in hellenistischer und
frühchristlicher Zeit werden im Hinblick auf ihren Umgang mit der Homosexualität beschrieben und ge-
deutet. Dabei interessiert zunächst die Beschreibung und Deutung der Homosexualität im Alten Testament
und seinem kulturellen Umfeld. Die Geschichte der christlichen Antihomosexualität, so der Autor, begin-
ne in Ägypten, und zwar "in der Symbolisierung des Gottes Seth, denn ein häufig wiederkehrendes Motiv
ist Seths Versuch einer homosexuellen Vergewaltigung" (169). Das Szenario einer gleichgeschlechtlichen
Vergewaltigung tauche dann auch in der Erzählung von der Zerstörung der Stadt Sodom in Genesis 19 auf,
so dass B. einen Zusammenhang zwischen beidem zu erweisen sucht. Die Vernichtung Sodoms, so B., sei
"von nun an ein bleibender Schatten dieses Gottes" Jahwe (212). - Auch in der Geschichte vom Aufstieg
Davids, so B., werde politische und sexuelle Theologie miteinander verknüpft. Die Erzählung von Saul
und Davd in den Samuelbüchern verwende "gleichgeschlechtliche Szenen zwischen Saul, David und Jona-
tan, um den politischen Aufstieg Davids zu legtimieren" (213). Es handele sich hier um ein "geschichtli-
ches Zeugnis dafür, dass die positive Symbolisierung von gleichgeschlechtlicher Liebe und Erotik mit der
Jahwe-Verehrung vereinbar war, ja dass Homoerotik sogar unmittelbar zum Jahwe-Bild selbst und auch
zu seinem Kult gehört hat" (238). Mit dem Beginn des 7. Jh. v.Chr. ende aber die Zeit des "homosexuel-
len" Gottes; in der nun aufkommenden Jahwe-Monolatrie sei für diese Sichtweise kein Platz mehr gewe-
sen.

Innerhalb der sog. priesterlichen Schichten des alten Testamentes finden sich im Rahmen des "Heilig-
keitsgesetzes" (Lev 17-26) in Lev 18,22 und 20,13 die einzigen ausdrücklich ausgesprochenen Verbote
männlich homosexueller Betätigung im Alten Testament. In der Auslegung ist freilich umstritten, ob es
sich hier um ein Verbot von homosexueller Beziehung überhaupt oder allein um das Verbot des Analver-
kehrs unter Männern handelt. Vor dem Hintergrund, dass die Ordnung der Ehe als Symbol auf das Gott-
Mensch-Verhältnis verweist (Gott wird dabei die männliche Seite, Israel die weibliche zugewiesen), "un-
terliegen die Priesterehen einer genauen Reglementierung" (276). Denn die Heiligkeit geht von Jahwe aus
und überträgt sich auf das ganze Volk. Da Gott als männlich imaginiert wird, "steht die Mänlichkeit im
Zentrum des Imaginären des priesterlichen Symbolsystems... In diesem Symbolsystem gilt das Männliche
als heilig" (281). Die Tatsache freilich, dass die Männer im Volk Israel gegenüber Gott symbolisch auf
der Seite des Weiblichen stehen, im Volk aber das Männliche repräsentieren, bringt sie in ein Dilemma,
welchem - so B. - u.a. dadurch begegnet wird, dass "der Blick auf das Männliche oder die Darstellung
des Männlichen verboten" wird (285).

Die in der griechischen Antike seit dem späten 7. Jahrhundert v.Chr. bekannte Päderastie, d.h. einer in-
tergenerationellen Homosexualität zwischen einem erwachsenen Liebhaber und einem noch jugendlichen
Geliebten gewinnt große Bedeutung und unterschiedliche Interpretationen. Schon Plato verweist aber dar-
auf, dass der Beischlaf "der Natur gemäß zum Kinderzeugen zu üben" sei (Nomoi 838e), und unterstützt
damit eine Dynamik, der es über Philo von Alexandrien und vor allem das Christentum gelingt, die Päde-
rastie weitgehend abzuschaffen. Die Homosexualität im antiken römischen Kontext hat eine andere Be-
deutung, auch wenn es manche Ähnlichkeiten gibt: "Während der soziale Sinn der Päderastie in der indi-
viduellen Erziehung des Knaben lag, waren die gleichgeschlechtlich-sexuellen Beziehungen der Römer
primär Ausdruck von Herrschafts- und Machtbeziehungen" (322). Im zeitgenössischen Frühjudentum
gibt es - insbesondere bei Philo von Alexandrien - eine ausgeprägte Ablehnung der Homosexualität. Pä-
derastie erscheint als Verweiblichung des Mannes, als Vernichtung des Samens und wie Ehebruch als al-
lein durch die Begierde motiviert und der Todesstrafe würdig. Demgegenüber beschreibt Philo das Ideal
der Jungfräulichkeit als Überwindung jeglicher sexueller Lust und Begierde, um stattdessen empfänglich
und fruchtbar in der Seele zu werden. So deutet B. - auf gewagte Weise (?) - das Ideal der Jungfräulich-
keit als Tarnung für die Homosexualität zwischen Gott und Mann, oder: "Das Imaginäre der Jungfräu-
lichkeit ist der historische Kompromiss zwischen Athen und Jerusalem. Auf dem Fundament dieses Kom-
promisses wurde die symbolische Ordnung des christlichen Abendlandes errichtet" (386).

In der apokalyptischen Literatur gewinnt die Sodom-Erzählung neue Bedeutung; nach B. wird sie zur
Sodom-Eschatologie verwendet und ausgeweitet: "Die Sünde der Sodomiter gab ein anschauliches Bei-
spiel für menschliche Handlungen, die den Zorn und damit das Gericht Gottes zu entfachen vermochten
... Die Bedeutung der Sodom-Eschatologie für die dauerhafte Verdammung der gleichgeschlechtlichen
Sexualität im Christentum ist daher kaum zu überschätzen" (391). Die paulinische Theologie versteht B.
als Lehre der Errettung aus der Sodom-Hölle. Paulus sei derjenige, dessen "Christusmystik der Gleichge-
schlechtlichkeit zwischen Männern einen Platz im Zentrum des christlichen Erlösungsglaubens verschafft
hat" (476). Die für die Erlösung notwendige gleichgeschlechtliche Vereinigung der Christen mit Christus
erfolge aber "gemäß dem Geist" und nicht "gemäß dem Fleisch". Schließlich sind es vor allem die Apo-
logeten des 2. Jh.s, zumal Justin, die Jesus Christus mit dem Logos verbinden und ihn damit als Feind
Sodoms zur Geltung bringen: "Der Logos wird damit das Symbol einer zur Metaphysik erhobenen, über-
zeitlichen Feindschaft zwischen den Christen und der gleichgeschlechtlichen Sexualität" (558).

Im Ganzen gibt das Buch am Beispiel der gleichgeschlechtlichen Liebe einen sehr tiefgreifenden Einblick
in die Bedeutung des Imaginären im Zusammenhang des Religiösen. Auch wenn man nicht jeder Schluss-
folgerung Brinkschröders zu folgen vermag oder folgen will, so ist doch unabweisbar, dass man in dieser
tiefschürfenden Weise an die immer wieder aktuellen Fragen um das Verhältnis des Christentums zur Se-
xualität und zur Gender-Problematik gehen muss, um sie wirklich zu verstehen. Erst wenn dieses Niveau
der wissenschaftlichen Erforschung und Auseinandersetzung erreicht ist und gehalten wird, ist überhaupt
die Chance gegeben, dass die vielfältigen Diskussionen um den Zölibat, das Priestertum der Frau, die Zu-
rückweisung der Homosexualität, das Ideal eines "jungfräulichen" Lebens usw. auf einem Niveau erfol-
gen, das intellektuell einigermaßen erträglich ist.

Herbert Frohnhofen, 21. Mai 2008