Okko Behrends
(Hg.), Der biblische Gesetzesbegriff. Auf den Spuren seiner Säkularisierung
(Abhand-
lungen der Akademie der
Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-Hist. Klasse III/278) Göttingen
2006;
Dieser Band - so informiert das
Vorwort des Herausgebers - veröffentlicht die Ergebnisse einer
Tagung, die
unter dem gleichnamigen Titel im April 2005 in
Göttingen stattgefunden hat. Die Vorträge der Tagung wur-
den zu ausführlichen Beiträgen ausgearbeitet;
dazu werden auch die jeweiligen Diskussionen, die im An-
schluss an die Vorträge stattfanden, aufgrund von Tonaufzeichnungen
detailliert dokumentiert. Rahmenthe-
ma aller Beiträge ist die Frage, "in welchem Maß
der spezifisch biblische Gesetzesbegriff in säkularisieren-
den Analogiebildungen auf den weltlichen, in der europäischen
Geschichte im Ausgangspunkt römisch ge-
prägten Gesetzesbegriff verändernd eingewirkt hat ud in welchem
Maße jener Gesetzesbegriff oder genau-
er; die ihn tragende Vorstellung von Recht, Widerstand geleistet hat"
(7). Es geht also durchaus um ein Kon-
kurrenzverhältnis zwischen zwei Arten von Gesetzesverständnissen, die hier
gegeneinander abgewogen
und in ihren Auswirkungen und Einflussnahmen miteinander verglichen werden.
In einem ersten Beitrag behandelt
RUDOLF SMEND das "Gesetz" im Alten Testament. Im Ausgang von
den Feststellungen, dass das alttestamentliche
Gesetz aus christlicher Sicht in aller Regel als das durch die Lie-
be zu Überbietende gilt sowie außerdem
der Ausdruck "Gesetz" im Zusammenhang des Alten Testamentes
sehr weit und auch oft unspezifisch verwendet wird,
veranschaulicht S. die Rechtsentwicklung innerhalb des
Alten Testaments am Beispiel der Sklavengesetze
im Bundesbuch und im Deuteronomium. - Der zweite Bei-
trag von REINHARD G. KRATZ diskutiert unter der
Überschrift "Theologisierung oder Säkularisierung"
den "biblischen Monotheismus im Spannungsfeld
von Religion und Politik". Hierbei macht er deutlich,
"daß der Gott Jahwe anderes und mehr ist
als ein Reichsgott, der mit der Monarchie steht und fällt, daß
er
vielmehr das Ende der beiden Monarchien selbst herbeigeführt
und auf diese Weise als souveräner Herr-
scher über alle Völker und ihre Götter überlebt
hat" (46). Der biblische Monotheismus, so seine pointierte
These, erweise sich bis heute "gewissermaßen als Spaltpilz,
der Gott und Welt trennt und dazu führt, daß
Religion und Politik sich verselbständigen, wenn nicht
in Konflikt geraten" (47). Dabei geht es bekanntlich
in der Folge darum, "inwieweit sich die moderne Politik und Staatslehre
einer Säkularisierung theologischer
Begriffe verdankt (Carl Schmitt) oder umgekehrt die Theologie von theologisierten
politischen Begriffen lebt
(Jan Assmann) und welche Rolle in diesem Zusammenhang der Monotheismus
und die christliche Trinitäts-
lehre spielen (Erik Peterson)" (47). Hinsichtlich der aktuellen, von
Jan Assmann ausgelösten, Debatte um
Monotheismus und Gewalt macht K. darauf aufmerksam, dass der biblische Jahwe-Glaube
vor allem in der
Auseinandersetzung mit der kanaanäischen Religion wächst; die von
Assmann so sehr in den Mittelpunkt
gestellte Abgrenzung von Ägypten sei hingegen peripher. Zusammenfassend weist K.
darauf hin, dass der
biblische Monotheismus eine kritische Alternative zur ursprünglichen, im gesamten
altorientalischen Raum
selbstverständlichen Einheit von Religion und Politik darstellt. Dies habe den Monotheismus
"zwar nicht
vor dem Mißbrauch politischer Vereinnahmung und gewaltsamer Durchsetzung geschützt,
aber auf Dauer
überlebens- und für Religion und Kultur anschlußfähig gemacht" (67).
Im dritten Beitrag behandelt
GERARD GUYON den "Gesetzesbegriff der christlich gedeuteten römischen
Monarchie unter besonderer Berücksichtigung
der Wende Konstantins". Wichtig ist nun, dass das Bewusst-
sein einer himmlischen Verwurzelung die Christen
zum bereits begonnenen Reich Christi vereinigt und dass
dies eine neue Ethik begründet: "Die kaiserliche
Autorität in Sachen des Rechts sowie der Natur, des Gel-
tungskreises und der Gegenstände des Gesetzes
werden dadurch tiefgreifend verwandelt" (91). - Im vier-
ten Beitrag behandelt NOTGER SLENCZKA "Thomas von Aquin
und die Synthese zwischen dem bibli-
schen und dem griechisch-römischen Gesetzesbegriff".
Thomas definiert ein Gesetz als "Regel und Maß
menschlicher Akte" (112); das Gesetz begrenzt und bindet also menschliches
Handeln, das immer ein bewusst
gewähltes und zweckgerichtetes ist. Das Gesetz enstpringt der praktischen
Vernunft; es ist dazu da, menschli-
che Begierden und Leidenschaften einzuhegen. Mit der Lex aeterna, der
lex naturalis und der lex humana gibt
es verschiedene Arten von Gesetzen, die in einem wechselseitigen Abhängigkeits-
und Ableitungsverständnis
zu einander stehen. Das für den Menschen bedeutsame Gesetz - die lex
humana - steht einerseits in der aristo-
telischen Naturrechtstradition bzw. der römischen Rechtstradition, andererseits
aber im Verhältnis zur alt- und
neutestamentlichen Gebotsethik mit ihrem Leitbegriff der Gnade. Wichtig
ist nun das klassische thomanische
Grundprinzip, nach dem die Gnade die Natur nicht aufhebt, sondern vollendet.
Der Dekalog stimmt mit dem
natürlichen, in jedes Menschen Herz geschriebenen - und damit auch ewigen
- Gesetz überein; der Mensch
erkennt dieses durch die praktische Vernunft. "Die sittliche Aufgabe, die dem
Menschen gestellt ist, besteht
also darin, seine Sinnlichkeit unter das Maß der Vernunft zu stellen"
(121). Das von den Menschen erarbei-
tete Gesetz (die lex humana), das positive Recht einer Gemeinschaft, ist im optimalen
Fall, wenn es von wei-
sen Menschen erarbeitet wurde, am Naturrecht orientiert; es ist aber grundsätzlich
änderbar. Zusammenfas-
send formuliert S. die These, dass bei Thomas von einem ambivalenten Vorgang zu sprechen
ist, "der sowohl
als Säkularisierung des Dekalogs als auch als Integration des Naturrechts in einen theologisch-kirchlichen
Horizont beschrieben werden kann"
(132).
Im fünften Beitrag behandelt
HASSO HOFMANN den "Begriff des Gesetzes in der politischen Theologie
von Thomas Hobbes". Die von Hobbes im
"Leviathan" aufgeworfene Frage ist nicht: "Welches sind die wah-
ren Gesetze Gottes?" sondern "Was ist das
überhaupt - ein göttliches Gesetz? Auf welche Weise tritt es uns
als
solches gegenüber? Letztlich und konkret:
Wer hat die Macht, die Heilige Schrift zum Gesetz zu erheben?"
(153). Er reduziert also die Wahrheitsfrage in diesem
Punkt auf die Frage nach der kirchlich-politischen Macht,
die freilich eine "kirchliche Macht des Staates
(meint), nicht... die Macht einer davon verschiedenen Kirche"
(154). Im Hintergrund steht die Auffassung: "Gegen
die Autorität der... staatlichen Gesetze... kann und darf
sich niemand auf religiöse Überzeugungen
oder göttliche Gebote, auf natürliche Gesetze, die Vernunft, mora-
lische Einsichten oder juristische Tradition, Erfahrung
und Weisheit berufen. Traum des 17. Jahrhunderts!"
(171). - Kants Begriff des praktischen Gesetzes,
so ROBERT ALEXY im sechsten Beitrag, ist nur vor dem
Hintergrund seiner Lehre vom Naturgesetz verständlich.
Dieses nämlich entstehe dadurch, "daß den Wahrneh-
mungen und ihrer konditionalen Verknüpfung...
die Kategorie der Kausalität" hinzugefügt werde (199). Die
bloße empirische Regel, die lediglich Subjektives
und Zufälliges zum Ausdruck bringe, werde zu einem Ge-
setz, das als notwendig und allgemeingültig angesehen
wird. Das praktische Gesetz freilich unterscheide sich
vom Naturgesetz dadurch, dass es nicht ausdrücke,
was geschieht, sondern was geschehen soll. Oberster
Grundsatz aller praktischen Gesetze sei der kategorische
Imperativ; dieser habe selbst Gesetzescharakter,
fungiere den anderen praktischen Gesetzen gegenüber aber als
Metagesetz.
Im siebten, abschließenden,
sehr ausführlichen und inhaltlich zusammenführenden Beitrag behandelt
der Her-
ausgeber OKKO BEHRENDS selbst das staatliche Gesetz
in biblischer und römischer Tradition. Hierbei
macht er eingangs darauf aufmerksam, dass der "biblische
Gesetzesbegriff und der römische Begriff von Recht
und Gesetz... für die Neuzeit zwei grundverschiedene
Traditionen der Deutung des staatlichen Gesetzes be-
gründet" haben (226). Dort, wo die biblische Tradition
theoretisch wirksam geworden ist, erscheine das staat-
liche Gesetz als Ausdruck einer höchsten Macht, von
der alles Recht seinen Ausgang nimmt. Wo dagegen,
das römische Recht die Begriffe geprägt hat, erscheine
"das staatliche Gesetz als ein dienendes Instrument,
das eine bereits vorhandene Rechtsordnung klärt, ändert
oder erneuert und als Medium und Quelle der eige-
nen Geltung voraussetzt" (226). Welche Bedeutung diese
unterschiedlichen Überlieferungsstränge im Ver-
lauf der Geschichte für das weltliche Recht gehabt haben, ist
Hauptfragestellung des Beitrags, die sodann
an vielen - auch historischen Details - konseuqent durchgearbeitet wird.
- Die ebenfalls dann noch doku-
mentierte Abschlussdiskussion der Tagung sucht die verschiedenen, in den Vorträgen
angesprochen The-
men zusammenzuführen und enthält dazu recht geeignete ausführliche Beiträge.
Im Ganzen enthält das
Buch eine höchst interessante und differenziert dargebotene Auseinandersetzung
um
die Traditionen unseres Gesetzesverständnisses. Bis
auf den letztgenannten Beitrag von O. Behrends gehen
die verschiedenen Beiträge jedoch durchaus so detailliert
und verästelt unterschiedlichen Einzelthemen nach,
dass es dem Leser - trotz der ebenfalls dokumentierten, sich
jeweils anschließenden Diskussionen - nicht im-
mer leicht fällt, den roten Faden im Blick zu behalten und
das Gemeinsame der Gespräche und Vorträge zu
erfassen. In hohem Maße macht das Buch - hier am Beispiel
des Gesetzesbegriffes - aber darauf aufmerk-
sam, wie sehr unsere Kultur bis heute auf - im Detail noch einmal unterscheidbaren
- antiken Traditionen
aufruht.
Herbert Frohnhofen, 1. Juli 2007