"Herr,
du weisst, dass ich altere und bald alt sein werde. Bewahre mich davor,
schwatzhaft
zu werden, und besonders vor der fatalen
Gewohnheit, bei jeder Gelegenheit und über jedes
Thema mitreden zu wollen. Befreie mich von der Einbildung, ich müsse
anderer Leute An-
gelegenheiten in Ordnung bringen. Bei meinem ungeheuren Schatz an Erfahrungen
und
Weisheit ist's freilich ein Jammer, nicht jedermann daran teilnehmen zu
lassen.
Du weisst, Herr,
am Ende brauche ich ein paar Freunde. Ich wage nicht, dich um die Fähig-
keit zu bitten, die Klagen meiner Mitmenschen
über ihre Leiden mit nie versagender Teilnah-
me anzuhören. Hilf mir nur, sie mit
Geduld zu ertragen, und versiegle meinen Mund, wenn
es sich um meine eigenen Kümmernisse
und Gebrechen handelt. Sie nehmen zu mit den Jah-
ren, und meine Neigung, sie aufzuzählen,
wächst mit ihnen.
Ich will dich
auch nicht um ein besseres Gedächtnis bitten, nur um etwas mehr Demut
und
weniger Selbstsicherheit, wenn meine Erinnerungen nicht mehr mit der anderer
überein.
stimmt. Schenke mir die wichtige Einsicht,
dass ich mich gelegentlich irren kann.
Hilf mir, einigermassen
milde zu bleiben. Ich habe nicht den Ehrgeiz, eine Heilige zu wer-
den. Mit manchen von ihnen ist es so schwer
auszukommen. Aber ein scharfes altes Weib
ist eins der Meisterwerke des Teufels.
Mache mich teilnehmend,
aber nicht sentimental, hilfsbereit, aber nicht aufdringlich. Ge-
währe mir, dass ich Gutes finde, wo
ich es nicht vermutet habe, und Talente bei Leuten,
denen ich es nicht zugetraut hätte.
Und schenke mir , Herr, die Liebenswürdigkeit, es ih-
nen zu sagen. Amen.
(Aus "Die Jahre vertiefen" von Kurt Scherer)
Autorin: Theresa von Avila 1515-1582