Theologie-Systematisch
Theologische Anthropologie
§ 3. Die Geschöpflichkeit des Menschen
II. Phasen/Stände des Lebens
Alter-Texte

Gebet einer Äbtissin

 "Herr, du weisst, dass ich altere und bald alt sein werde. Bewahre mich davor, schwatzhaft
zu werden, und besonders vor der fatalen Gewohnheit, bei jeder Gelegenheit und über jedes
Thema mitreden zu wollen. Befreie mich von der Einbildung, ich müsse anderer Leute An-
gelegenheiten in Ordnung bringen. Bei meinem ungeheuren Schatz an Erfahrungen und
Weisheit ist's freilich ein Jammer, nicht jedermann daran teilnehmen zu lassen.

Du weisst, Herr, am Ende brauche ich ein paar Freunde. Ich wage nicht, dich um die Fähig-
keit zu bitten, die Klagen meiner Mitmenschen über ihre Leiden mit nie versagender Teilnah-
me anzuhören. Hilf mir nur, sie mit Geduld zu ertragen, und versiegle meinen Mund, wenn
es sich um meine eigenen Kümmernisse und Gebrechen handelt. Sie nehmen zu mit den Jah-
ren, und meine Neigung, sie aufzuzählen, wächst mit ihnen.

Ich will dich auch nicht um ein besseres Gedächtnis bitten, nur um etwas mehr Demut und
weniger Selbstsicherheit, wenn meine Erinnerungen nicht mehr mit der anderer überein.

stimmt. Schenke mir die wichtige Einsicht, dass ich mich gelegentlich irren kann.

Hilf mir, einigermassen milde zu bleiben. Ich habe nicht den Ehrgeiz, eine Heilige zu wer-
den. Mit manchen von ihnen ist es so schwer auszukommen. Aber ein scharfes altes Weib
ist eins der Meisterwerke des Teufels.

Mache mich teilnehmend, aber nicht sentimental, hilfsbereit, aber nicht aufdringlich. Ge-
währe mir, dass ich Gutes finde, wo ich es nicht vermutet habe, und Talente bei Leuten,
denen ich es nicht zugetraut hätte. Und schenke mir , Herr, die Liebenswürdigkeit, es ih-
nen zu sagen. Amen.

(Aus "Die Jahre vertiefen" von Kurt Scherer)

Autorin: Theresa von Avila 1515-1582


"Das Alter ist das zunehmende Chaos im Leben. Man sammelt mehr Dinge an, mehr Be-
ziehungen, mehr offene Rechnungen - es wird alles immer komplizierter, und es wird
alles immer schwerer zu vereinfachen, und es braucht dazu immer größere Gewaltakte.
Der Satz von der Entropie sagt ja, daß immer und überall in der Welt das Chaos ständig
steigt, und wenn man an einer Stelle Ordnung schafft, kostet es einen woanders umso
mehr Energie. Das ist in jedem einzelnen Leben so, und auch jeder Schreibtisch wird von
selbst immer nur unordentlicher, und man denkt sich, warum wird er nicht mal von selbst
ordentlicher? Wegen der Entropie. Er kann letztendlich nur unordentlicher werden.
"

(Daniel Kehlmann, in: FAZ-online am 9. Februar 2006)