In der
Einleitung dieses umfangreichen Kongressbandes
legt der Herausgeber dar, dass
"die herkömm-
liche Vielstimmigkeit" der evangelischen Theologie in den letzten Jahren des ausgehenden Jahrtausends
"vielleicht noch zugenommen" habe, diese aber von dem von unten gewachsenen Konsens umgriffen sei,
dass Theologie
"eine praxisleitende Erfahrungswissenschaft" sei. Dieser neugewonnene Konsens im
Selbstverständnis evangelischer
Theologie habe im Thema des ersten Kongresses des neuen Jahrtausends
zum Ausdruck kommen sollen; das
"war der eine Grund
für die Wahl des Themas 'Leben'". Doch auch
die
"Sache der Theologie und der Fokus des öffentlichen Bewußtseins
konvergieren im Thema 'Leben'.
Das war der andere Grunfd für seine Wahl" (9).
Der erste Teil des Buches - "
Hauptvorträge" überschrieben
- enthält sodann ein buntes Kaleidoskop von
interdisziplinären Stellungnahmen zum Thema "Leben". Grundsätzliches über die
Bedeutung von Wissen-
schaft zur Lebensorientierung und zum biblischen bzw. christlichen Verständnis von Leben ist hier
ebenso
enthalten wie eine ganze Reihe von Beiträgen, die das Thema "Leben" aus einzelwissenschaftlicher, insbe-
sondere naturwissenschaftlicher
Perspektive fokussieren. JÜRGEN RENN argumentiert z.B. eingangs,
dass die von der Wissenschaft zu leistende
Lebensorientierung sich messen lassen muss an dem, was Re-
ligionen jahrtausendelang für die Menschheit geleistet
haben,
"nämlich der Gesellschaft ein Bewußtsein
ihrer selbst zu geben und dem Individuum Partizipation am Gattungsschicksal
zu ermöglichen" (15).
JÜRGEN BECKER erläutert das biblische Verständnis des Lebens vor allem
unter den Perspektiven der
Geschöpflichkeit, der menschlichen Sonderstellung und der Qualität des Lebens sowie der
zuletzt auf-
scheinenden transmortalen Vollendung des Lebens. JOHANNES FISCHER schließlich macht darauf
aufmerksam,
dass Leben aus christlicher Perspektive ursprünglich ein Gottesprädikat ist, dass Gott aber
"seinen
Geschöpfen an seinem Leben teilgibt. Alles, was lebt, lebt eben dadurch, daß es an Gottes Le-
bensfülle teilhat" (139).
Der zweite, weitaus umfassendere Teil des Buches versammelt die Ergebnisse
von
Fachgruppenveran-
staltungen. Hier finden sich Detailarbeiten zu Perspektiven auf das menschliche Leben sowohl
aus bibli-
schem und kirchenhistorischem als auch aus systematischem und praktischem sowie zuletzt religions- und
missionswissenschaftlichem Hintergrund. SAMUEL VOLLENWEIDER z.B. betrachtet neutestamentli-
che Perspektiven auf Lebensfülle
und Lebensminderung, die jeweils kontrapunktisch zum Tod (als dem
menschlichen Sterben im allgemeinen
oder dem Tod Jesu Christi im besonderen) ausformuliert werden.
BERND JANOWSKI meditiert die einschlägige
Bildersprache und deren Aussage in den Psalmen und
JAMES ALFRED LOADER die das Leben ordnende Lebensgestaltung
als weisheitliche Lebensverant-
wortung. MARTIN RÖSEL formuliert anthropologische Akzentsetzungen
in der Septuaginta, ANGELI-
KA REICHERT das Verständnis des Todes bei Paulus.
In der kirchengeschichtlichen Abteilung diskutiert VOLKER HENNING DRECOLL
den Umgang mit
dem ungeborenen Leben in der Alten Kirche und kommt hierbei zum Ergebnis,
"daß
es im Christentum
der Alten Kirche keine schlüssige und kohärente Auffassung vom ungeborenen Leben gegeben
hat. Vor
allem fällt die Differenz auf, daß die Abtreibung weitgehend abgelehnt wurde, die im gleichen Alter ver-
storbenen
Föten jedoch nicht in besonderer Weise als Problem der Bestattungspraxis oder Seelsorge in
den Blick kamen"
(339f). Die Totentänze des Spätmittelalters stellt ANDREAS MÜHLING als Heraus-
forderungen dar, die nur
durch ein Leben bestanden werden können, das
"von Umkehr und Buße geprägt
und von einer intensiven
Vorbereitung auf das eigene Sterben charakterisiert ist" (351).
In der systematisch-theologischen Abteilung diskutiert MICHAEL MURRMANN-KAHL
Perspektiven
auf das Leben, die Natur und die Freiheit, die sich aus der anhaltenden Diskussion
um den freien Willen
ergeben; MICHAEL SCHIBILSKY beschreibt die Theologie als Ars vivendi. ULRICH H.J. KÖRTNER
stellt sozialehtische überlegungen zur aktuellen Biopolitik vor und ELISABETH GRÄB-SCHMIDT dis-
kutiert
die Auswirkungen der Technik auf unser Verständnis von Leben. Schließlich spielen in der
prak-
tisch-theologischen Abteilung der Segen und die Scham des Menschen sowie in der religionswissenschaft-
lichen Abteilung buddhsitische
Stellungnahmen zu Euthanasie und Organtransplantation sowie das Ver-
ständnis von Leben in
der modernen Esoterik eine sehr wichtige Rolle. Im Ganzen gibt das Buch einen
Einblick in die bunte Vielfalt von theologischen
Zugangsmöglichkeiten zum Begriff des Lebens; und es
beweist auf diesem Weg - wenn auch nicht, dass
Theologie eine "praxisleitende Erfahrungswissenschaft"
sei, so doch, dass in ihr in hohem Maße auf aktuelle
und historische Deutungen des Lebens aus anderen
Wissensbereichen aktiv zugegangen wird. So wird das Buch zu
einer wahren Fundgrube für interessante
Darstellungen aus der Theologischen Anthropologie.
Herbert Frohnhofen, 11. Juni 2006